Gisèle Vienne und ihr Team waren auf dem diesjährigen Sommerfestivals Kampnagel mit der Arbeit Crowd zu erleben. Selten habe ich eine solche Schönheit mit einer solch kathartischen Kraft im Theater erlebt und suchte daher das Gespräch mit der Choreografin/Regisseurin.
Ausgehend von ihrer gegenwärtigen Arbeit Crowd, sprach Gisèle über ihre Suche nach einem neuen Fest, die anthropologisch-politische Dimension von Gefühlen und die zwischen Geschwindigkeitsrausch, Entertainment und Pädagogik oft übersehene not-wendige Rolle der Kunst. Eine Künstlerin, die sich Langsamkeit, Qualität – und Lachen erlaubt.
Ursprung der Arbeit von Crowd sei Le sacre du printemps, mit dem sich Gisèle seit vielen Jahren beschäftigt, und zwar vor allem aus soziologischer Perspektive. 1913 im Théâtre des Champs-Elysees uraufgeführt, rief diese Choreografie mit ihren den Ballettrahmen sprengenden Reminiszenzen an heidnische Feste einen Riesenskandal hervor und bleibt bis heute ein Fanal innerhalb der Europäischen Kunstgeschichte. Mit seinem urtümlichen Stampfen auf dem Boden entsprach dieses Tanzspektakel in keiner Weise dem, was man als Kunst betrachtete, fand aber – so Gisèle – auch nicht am richtigen Ort stattfand. Früher war Kunst mit dem religiösen Ritual vermischt, das habe sich getrennt, doch habe die heutige Kunst ihren Platz in Bezug zu letzterem noch nicht gefunden.
„Ich bin Atheistin, aber ich finde, man hat generell die Tendenz, Kunst in Richtung ‚Pädagogik‘ oder ‚Entertainment‘ zu bringen. Doch ich finde, Kunst ist in dem was sie sozial – also in der Gemeinschaft oder Gesellschaft – bringen kann, viel näher an dem, was sie in der Religion gebracht hat: eine sehr intime Erfahrung, ein sehr spirituelles Gespräch zwischen den Zuschauern und der Kunst.“ Hier herrsche heute ein großer Mangel, und zwar politisch – in den politischen Gesprächen und Orientierungen, daher fände sie Le sacre du printemps sehr aktuell.
„Und ich wollte an einem neuen Fest arbeiten – an einem Fest, das am Ende des 20. Jahrhunderts oder Anfang des 21. passieren könnte, aber Strukturen hat, wie man sie schon seit Jahrtausenden kennt.“ Und die Dramaturgie vom Sacre sei ziemlich genau an dem dran, was man noch heute an Ritualen finden könne – von Hawaii bis Afrika und auch in Europa, daher fände sie sich auch in Crowd wieder.
Und hier ein paar der angesprochenen Themen:
- Weshalb eine Rave-Party? Die Jugendkultur und ihre Musik habe viel mit Sehnsucht, mit der Suche nach dem zu tun, was in der Gesellschaft fehlt, nicht nur oberflächlichen Bedürfnissen, und sei insofern eine sinnvolle Referenz für die Suche nach dem „Ritual“ in der zeitgenössischen Gesellschaft. „Jeder von uns ist tiefsinnig und sucht etwas Tieferes in seinem Leben.“
- Sie lasse sich Zeit mit Ihren Arbeiten, mache dann etwas, wenn sie es brauche. Die Kunstszene „pusht die Künstler, viel zu machen, und das ist sehr schade.“ Denn die Kunst habe eine kathartische Funktion, die sei notwendig und es sei wichtig, dass es dafür Orte gebe: „Das Ästhetische hat eine physische Funktion, um unsere Erfahrungen von uns selbst und der Welt zu erweitern.“
- Zur Ästhetik in Crowd: „Es ist gleichzeitig Verfall und Verherrlichung vorhanden.“ Zum Beispiel seien die Kostüme durchaus billig, aber sie finde sie „herrlich, denn sie verraten, wovon die Jugendlichen träumen.“ Klamotten von Jugendlichen aus den Banlieues erzählen von ihren Träumen.
- Halluzinatorische Effekt durch die Zeitverdehnung, an der das Licht beteiligt ist, das über Jahre geht, während die Musik fast Realtime ist. Diese verschiedenen Zeitebenen ergeben Reibungen.
- „Es wird nicht gelogen.“
- „Es ist mir wichtig, dass das Stück nicht meine, sondern die Geschichte des Zuschauers erzählt.“
- Am Anfang dieser Arbeit habe viel mehr Gewalt gestanden, als jetzt sichtbar sei, denn sie habe an dem Stück gearbeitet, als gerade die Attentate in Paris stattfanden. „Für die Attentäter wurde oft der Begriff ‚Barbar‘ verwendet, obwohl sie meistens unsere Nachbarn waren, also zivilisierte Menschen. Der zivilisierte Mensch ist eben sehr gewalttätig, war es immer und wird es immer sein.“ Die Frage sei also nicht, wie man Gewalt beseitigen könne, sondern wie man Orte in der Gesellschaft für sie finden könne, ohne die Gesellschaft und die Menschen zu schädigen – sondern im Gegenteil, indem man an deren Emanzipation teilnimmt. Außerdem werde Gewalt immer von vorneherein als negativ verurteilt, Gewalt sei aber sehr vielseitig und könne negativ wie positiv sein (siehe das Buch von Randall Collins, Violence: A micro-sociological theory). Oft versuche man Menschen flacher zu machen, als sie es sind. Daher müssen transgressive Themen in der Kunst einen Platz haben, um dem Menschen einen innerlichen Gespräch mit der Vielfältigkeit seines Wesens zu ermöglichen. Ihr werde aber manchmal vorgeworfen, dass sie so viel Gewalt in ihren Stücken aktiviere, wo doch ohnehin schon so viel Gewalt überall vorhanden sei.
- Viele Kunstschaffende seien vorsichtig oder hätten Angst, mit Gefühlen zu arbeiten, weil sie nicht entertainen oder manipulieren wollen. Politik und Gefühl ließen sich aber nicht trennen, denn „Gefühle sind immer da.“ Man könne damit respektvoll oder manipulativ arbeiten – da liege der Unterschied. Und sie verstehen. Denn um mit der bedauerlichen Zunahme von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit umzugehen, müsse man erst einmal die Motive verstehen – und das könne man nur über die Gefühle, vor allem die Angst, wenn dazu noch Analysefähigkeit fehle und/oder völlig außer Kraft gesetzt sei. „Wenn wir nicht ganz präzise auf dem Feld der Gefühle investigieren, werden wir nicht durchkommen.“ Erst seit ein parr Jahrzehnten beschäftigen sich Forscher intensiv damit, „und ich glaube, auch die Kunst hat da eine wichtige Aufgabe zu spielen“. Insofern gehe man in Crowd durch ein intensives Gefühlsbad, das hoffentlich etwas bewirke.
- Zu Gisèle Viennes Werdegang: Zugang zu Puppentheater über die Skulptur (Tinguely, Calder, ihre Mutter) und später den Animationsfilm. Über die Philosophie zum Figurentheater, „archaischen“ Theater und künstlichen Lebensgestalten. In Sevilla entdeckte sie, dass das Herumtragen von Heiligenfiguren in Prozessionen auf den Ursprung von Puppentheater verweist. Es sei zwar „einfach, aber durchaus erarbeitet und bewusst animiert. So muss es auch im alten Ägypten gewesen sein.“ Und heute hätten wir so viele künstliche Figuren wie noch nie. Und von da aus stelle sie sich die Frage: Wie sehe ich einen Menschen – wie ein Bild oder mit all seinen Gefühlen? Auf der Bühne heiße das, die Vielfalt von Modi zwischen inkarniert – desinkarniert und präsent – absent auszutasten – und das in Bezug zu den Zuschauern, ihrer Wahrnehmung. Was passiert, wenn sich eine Figur nicht mehr bewegt, was kann das bedeuten? Stillstand, wie er in Crowd vorkomme, entspräche dem, was Pausen – auf Französisch silence (Stille) – in der Musik seien, eine „Brücke zwischen lebendigem und künstlichem Körper, wo der Tod immer in der Nähe ist.“ Hier sei Georges Batailles Text „Die Erotik“ sehr hilfreich.
- Praktische Vorgehensweise: Künstlerisches Talent sei ebenso wichtig wie die menschliche Qualität, Beziehungs- und Begeisterungsfähigkeit. Auch Humor sei sehr wichtig, weil ein sehr tiefes transgressives Gefühl.
- Von Anfang spielen alle Elemente gleichberechtigt mit – wie in einem Orchester. Alle mitwirkenden Menschen und Medien sind wie Musikinstrumente. Mit vielen arbeite sie schon lange zusammen. Und sie arbeite über lange Zeitspannen hinweg. Am Anfang stehe mittlerweile immer eine vorläufige Gesamtskizze, auch wenn sie möglicherweise vieles darin ändere.
- Von Anfang an habe sie es sich „geleistet“, sich auf die Qualität ihrer Arbeit – als ihre „Waffe“ – zu fokussieren.
„Ich hoffe, dass meine Stücke für die Gesellschaft etwas Gutes bringen.“