»Das Leben ist ein großes Spiel«: A la mémoire de Pierre Gallissaires

Pierre Gallissaires © Edition Nautilus

Dieser Beitrag gilt der Erinnerung an den jüngst verstorbenen Pierre Gallissaires. Einem Gespräch, das Hanna und Karin Uttendörfer mit Pierre im November 2019  in seiner Küche in Montauban geführt haben, folgen eine Radiosendung zu seinem Gedenken mit Hanna und Roberto Ohrt als Gästen sowie ein Nachruf von Hanna Mittelstädt – und Fotos.


AM HELLEN TAG

das glück war da das risiko
der überfluss der traum
und seine wirklichkeiten schwarze blumen von neuem

vom tiefen meeresgrund kamen die blumen an die oberfläche

die zukunft in der gegenwart das unglaubliche
evident
wie 2 und 2

sind märz im monat mai

(Von Pierre Gallissaires. Aus: Die Straßen, die Mauern, die Commune)

Ein Gespräch mit Pierre, das Hanna Mittelstädt und Karin Uttendörfer in Montauban am 2020 geführt haben:

Eine Radiosendung mit Hanna Mittelstädt und Roberto Ohrt – die Ausgabe der neopostdadasurrealpunkshow vom 13. August 2020 auf Radio FSK Hamburg:

Ein Nachruf von Hanna Mittelstädt

Pierre Gallissaires, neben Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt der dritte Verlagsgründer des MaD-Verlags, später Edition Nautilus, starb im Alter von 88 Jahren.

Pierre Gallissaires ist am 10. August 2020 im Krankenhaus von Toulouse gestorben. Er lebte seit vielen Jahren allein in Montauban in einem Häuschen am Stadtrand, die Vorderseite auf eine graue, vielbefahrene Ausfallstraße gerichtet, Autobahnzubringer, Gewerbegebiet, Stadion, aber die Fenster der Rückseite blickten auf eine Art Paradies: ein grüner Garten, dahinter ein Nebenarm der Tarn, der vor Jahren, kurz nach seinem Einzug, um mehr als 7 m anschwoll und einen Teil von Pierres Bibliothek fast ersäufte, der noch in Kartons auf dem Boden stand. Aber das meiste war bereits ordentlich in Regale eingeordnet. Pierre hasste das, was landläufig Ordnung genannt wird, er hasste weiße Wände, Krankenhäuser und die Katholische Kirche. Er hasste Professoren. Und die »Alte Welt«. Hauptsächlich liebte er aber: die Poesie, die Revolution, seine eigene, selbstgebastelte Ordnung und seinen eigenen, möglichst langsamen Rhythmus, so langsam wie möglich in all den Turbulenzen. Er liebte seine Freundinnen, Freunde und Genossen sowie Genossinnen, seine Gefährtin Nadine Tonneau, die lange vor ihm starb, und auch, nehme ich an, sein selbst gestaltetes Vorstadthäuschen, in dem es keine weißen Wände gab: Sie waren alle mit Plakaten aus der „eigenen Produktion“, mit Büchern einer 70 Jahre lang stetig gefüllten Bibliothek, mit den Fundstücken seines langen Lebens, den Töpfereien seines Bruders François, mit Fotos und einigen schwer in die Jahre gekommenen aus dem Elternhaus geerbten Möbeln bedeckt. In der Küche hing eine Sammlung von Holzlöffeln aus aller Welt, bestimmt hundert, aber was sind schon Zahlen, sie bedeckten eine ganze Wand. Immer, wenn ich kam (oder sicher auch andere), stand im Gästezimmer eine Vase mit einer frisch geschnittenen Rose oder etwas Blühendem aus dem Garten. Ich war gern in seinem Haus, beim Eigenbrötler mit seinem festen Tagesrhythmus, ich ging in der von mir geliebten und/oder geteilten Geschichte umher.

Ich kann es nur immer wieder betonen, wie wichtig Pierre für die Anfänge des Verlags war, für die Programmatik, und was für großartige Projekte er teils initiierte, teils umsetzte: Das Paris der Surrealisten, Fotos und Texte, von ihm zusammengestellt und ausgesucht, mit dem wir uns vorwitzig auf den Kunstbuchmarkt wagten. Die Autobiographien von Charles Mingus und Billie Holiday, von Jacques Mesrine (damals Staatsfeind Nr. 1 Frankreichs). Die Dadaisten, Isidore Ducasse, Jacques Vaché, Arthur Cravan, das geschriebene Werk Francis Picabias … all das kannten wir anarchistischen Lümmel Lutz und ich ja gar nicht, jung wie wir waren. Pierre war, was man heute unseren Mentor nennen würde. Für uns war er ein Genosse und enger Freund, der sich auskannte und dessen literarischem und politischem Geschmack wir vertrauten.

Und natürlich war er der »Sendbote« der situationistischen Ideen, mit ihm zusammen übersetzte ich die gesamten Texte der Zeitschrift Internationale Situationniste ins Deutsche. Pierre war auch Freund Raul Vaneigems und legte uns dessen Bücher aus der nach-situationistischen Zeit ans Herz, die wir sehr gern, aber auch sehr erfolglos veröffentlichten.

Pierre war immer wieder überrascht, dass wir ihn öffentlich stets als »Dritten Mann« der Edition Nautilus-Gründung erwähnten. Für ihn war das, was wir zusammen machten, ein Spiel, ein Abenteuer, eine politische Ausrichtung, aber kein Verlag. Er hasste alles Institutionelle, Verfestigte.

Pierre war 1972 nach Hamburg gekommen, er suchte eine andere Welt als die des niedergeschlagenen Mai 68 in Frankreich. Er fand diese andere Welt, die natürlich eine zu schaffende war, bei den jungen Anarchisten in Hamburg, und die Begegnung mit Lutz war eine »Liebe auf den ersten Blick«. Ich stieß kurz darauf dazu, und die Zusammenfügung der drei Temperamente und Leidenschaften entzündete ein lange brennendes Feuer der Neugierde und Tatkraft. Auch wenn Pierre Hamburg schon bald wieder verließ, um mit seiner neuen Freundin Nadine nach Frankreich zurückzukehren, ließ die Verbindung nicht nach. Wir kamen im Sommer für vier Wochen dorthin, wo deren Nomadentum gerade eine Unterkunft gefunden hatte, und Pierre reiste hin und wieder nach Hamburg oder zu einem Treffen anderswo. Wir praktizierten das Verlagsprogramm (diskutierten, übersetzten, suchten nach Geld, entwarfen Strategien) und daneben experimentierten wir eine politische Praxis in der Folge der Situationisten: Poesie, Alltagsleben, Politik in einer Tätigkeit vereint. »Seid Wasser«, sagte man damals noch nicht, aber wir waren gegen jede Verfestigung.

Pierre wurde in Frankreich ein angesehener Übersetzer, er übersetzte eine lange Liste von Werken wunderbarer Autoren  aus dem Deutschen: Max Stirner, Ernst Toller, Gustav Landauer, Heinrich Böll, Arthur Schnitzler, Oscar Panizza, Alfred Döblin, Hugo Ball, Karl Kraus, Joseph Roth, Hans-Magnus Enzensberger, Franz Jung, Paul Scheerbarth, Erich Mühsam u.v.a. Für gemeinsame Lyrik-Übersetzungen mit Jan Mysjkin aus dem Niederländischen erhielten die beiden 1995 und 2009 jeweils einen Lyrik-Preis. Pierre hasste Preise, aber es war doch verdient.

Pierre liebte es, seine eigene Lyrik zu schreiben. Nachdem er irgendwann entschieden hatte, mit dem Übersetzen aufzuhören (er hatte stets abgelehnt, sich an einen Computer auszuliefern – er hasste Maschinen), setzte er sich jeden Abend nach einer leichten Suppe, die er liebte, an seine Schreibmaschine, eine lebenslange Treue, und dichtete, in französischer Sprache, die schweren Fensterläden zur Straße sorgfältig geschlossen. Die ersten Entwürfe handschriftlich, dann mit der Schreibmaschine, und die Korrekturen wieder per Hand. 1971 erschien Pierres erster Gedichtband: Suite Benjamin, mit einem beigelegten Siebdruck seines Bruders François in einer bibliophilen Ausgabe mit unaufgeschnittenen Druckbögen. Es enthält die deutschsprachige Widmung vom 2.7.1972: für lutz und hannah, dieses stückchen einer langen folge zur befreiung der menschlichen sprache. In der Edition Nautilus wurde, als sie noch MaD-Verlag hieß, 1975 eine Sammlung von Pierres Gedichten mit Zeichnungen von Lutz als Flugschrift Nr. 10 unter dem Titel: Die Straßen, die Mauern, die Commune, 22 Gedichte über Mai und Juni 68 auf französisch und deutsch veröffentlicht. Pierres enge Freundin Evy Azuelos gründete 2009 den kleinen Verlag Aviva und veröffentlichte zwei seiner Gedichtbände: Le dit du poème parmi d’autre (Gedichte 1979 – 2009) enthält die französischsprachige Widmung: für h.m. von ihrem alten freund und komplizen »für immer«. Je tu il ou d’aucuns, 2015, mit der Widmung an mich: Für h.m., am faden der worte, der jahre und einer alten freundschaft, dein pg.  Ein neuer Gedichtband ist bei Aviva in Vorbereitung.

Eine Epoche geht zuende, schrieb mir eine Freundin zum Tod Pierres. Aus der Urzelle der Nautilus-Epoche bin ich jetzt die letzte. Die Nautilus-GmbH der Mitarbeiter ist eine neue Epoche, an der ich nicht mehr teilhabe. Ich sitze am Schreiben der Verlagschronik, die bis Lutz‘ Tod reichen wird, und bin mit den Verlagskorrespondenzordnern von 1972 schon bis 1979 vorgedrungen. Die Hälfte der Ordner nimmt der Briefwechsel zwischen Lutz und Pierre ein. Was für ein Schatz, dass es sie gibt. Was für eine lebenslange Arbeit am Wort. Was für Lebenslinien: vom Vorstadtproleten ohne gültigen Schulabschluss und mit nicht bestandener Dekorateurslehre zum erfolgreichen Verleger (Lutz), von der braven Abiturientin zur Erbin unserer Erfahrungen, vom illegalen Kriegsdienstverweigerer vor dem Algerienkrieg und Exilanten in Marokko Ende der 50er Jahre, dem begeisterten Kombattanten im Mai 68 zum Dichter an der Schreibmaschine im Jahr 2020. Pierre wurde 88 Jahre alt.

⇒ Traduit efrançais sous le titre »Mort d’un poète-contrebandier« par Gaël Cheptou.

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