»Ich bin weder Maler noch Malerin«: Annie le Brun erinnert sich an Toyen

Anlässlich der großen Retrospektive des Lebenswerks von Toyen (Marie Čermínová, *1902 in Prag, †1980 in Paris) in der Hamburger Kunsthalle – kuratiert von Dr. Annabelle Görgen-Lammers in Zusammenarbeit mit Annie Le Brun (Co-Kuratorin des Musée d’Art Moderne de Paris) und Dr. Anna Pravdová (Co-Kuratorin der Nationalgalerie Prag) – kam ich ins Gespräch mit Annie Le Brun. Sie kennt Toyens Bildwelt nicht nur aus kuratorisch-kunstkritischer Sicht, sondern spürt Toyens Bilddenken aus Sicht der Gleichgesinnten und Gefährtin gleichsam von innen her auf.

Annie Le Brun

1942 in Rennes geboren, war Annie Le Brun als junge Poetin zu den Surrealisten der Nachkriegsjahre hinzugestoßen und hatte dort nicht nur André Breton, sondern auch ihren Lebenspartner Radovan Ivšić und Toyen kennengelernt, mit der sie seither eine innige Freundschaft verband. Bis heute zeugen ihre poetischen, essayistischen und kuratorischen Arbeiten von einer ungebrochenen Rebellion gegen jede Form von Kleingeisterei, Kategorisierung und Unterwerfung.

Das Gespräch fand am 23. September 2021 im Café Liebermann in der Hamburger Kunsthalle auf Französisch statt und wird im Rahmen der Radiosendereihe neopostdadasurrealpunkshow am 14.10.2021 gesendet werden. Der Sendemitschnitt sowie eine zusammenfassende Übersetzung, in zehn Abschnitte aufgefächert, ist im Folgenden nachzuhören und nachzulesen./L’entretien avec Annie Le Brun a eu lieu le 23 septembre 2021 au Café Liebermann dans la Kunsthalle Hambourg en français et sera présenté ici d’abord en dix parties accompagnée par une traduction globale en allemand, ensuite de façon continue Une émission à la radio FSK Hamburg va suivre le 14 octobre 2021.

Der Sendemitschnitt vom 14.10.2021 (17–19 Uhr) auf dem Freien Sender Kombinat Hamburg

Den musikalischen Rahmen bilden Auszüge aus Lera Auerbachs 24 Preludes for Violin (Vadim Gluzman) and Piano (Lera Auerbach), Op. 46. (Foto: Toyen mit Karel Teige, Prag, 1924, Privatsammlung, Paris © Katrin Backes, Sylvain Tanquerel)

Das Gespräch in zehn übersetzten Abschnitten

(1) … Ich hatte mich immer gefragt, weshalb sich die Imagination in den Romans noirs schon mitten in der Aufklärung – im sogenannten Siècle des Lumières – mit diesem Schloss einen Ort geschaffen hat, der bereits dem Dekor und der Atmosphäre der Romantik entspricht, in der die wilde Natur ein Außenbild des Innenlebens der Menschen ist. Und schließlich entdeckte ich, dass dieses Schloss genau jenes von de Sade gewesen ist. Dadurch bin ich quasi zufällig auf de Sade gestoßen und habe entdeckt, dass er mit seiner Suche genau dort ansetzte, wo die anderen sie beendeten. Und dafür – für all das, was damit einhergeht: die veränderte Sensibilität, die veränderte Ästhetik beispielsweise in der Gartenkunst, Fragen der Erotik etc. – habe ich mich sehr interessiert. Es war, als hätte die Imagination einen Ort für all das gefunden, was die Philosophie der damaligen Zeit ausschloss. In dem Moment, in dem die zusammengebrochene christlich-abendländische Weltanschauung keine Ordnungskategorien für Gut und Böse mehr lieferte, stellte de Sade Fragen nach dem Dunkel, die die Aufklärung nicht stellte. Die Imagination übernahm das Ruder – und dies lange vor dem Surrealismus, der in seinem ersten Manifest nur den Roman noir unter den Romanen anerkennt, weil dieser dem Wundersamen folgt. Artaud nennt die Figur Mathilde im Matthew Gregory Lewis Roman The Monk [1796 veröffentlicht; Antonin Artaud hat diesen Roman 1931 übersetzt: »Le Moine, de Lewis, raconté par Antonin Artaud«] »une tentation à l’état pur« (»eine Versuchung  pur«) und fügt hinzu: »Si un personnage n‘est pas une tentation à l’état pur, qui est-il?« (»wenn eine Figur keine pure Versuchung ist, was ist sie dann?«. Als ich dies als 17jährige las, wollte ich natürlich wissen, was das für Bücher sind, in denen Figuren die pure Versuchung sind. Doch diese Romane waren damals quasi unzugänglich.

Allerdings folgen die Romans noirs immer demselben Muster und kehren am Ende stets zur Ordnung zurück: Ein junges Mädchen verirrt sich in der wilden Natur, sieht plötzlich ein Schloss – und dort wartet dann ein Retter auf sie. Bei de Sade aber ist dieser Retter ein bisschen sadistisch. Ich denke, dass ein großer Anteil der Moderne auch daher rührt, dass man dort nicht genauer hingeschaut hat bzw. nicht hat hinschauen wollen.

 

(2) Zum Namen Toyen: Es gibt viele Theorien – vor allem heute in Zeiten von Gender/Transgender-Diskussionen – zu ihrem Namen. Sie hat mir gesagt, im Alter von 17/18 Jahren habe sie die Französische Revolution sehr fasziniert, und auch die Tatsache, dass die Leute sich damals als »Citoyen…« ansprachen. Dazu muss man wissen, dass man in Sprachen wie dem Tschechischen den Namen des Vaters trägt, sie hieß also Čermínová, was für sie unerträglich war. Deshalb hat sie das Ci- von Citoyen gestrichen und sich einfach Toyen genannt, hat selbst diesen Namen aber tschechisch ausgesprochen.

Annie Le Brun, Sie »sind« Dichterin, Surrealistin, Kuratorin – in diesem Fall Co-Kuratorin der Ausstellung – und Weggefährtin von Toyen: Wie haben Sie Toyen kennengelernt?

Mit 16/17 Jahren wollte ich nichts von alldem machen, was man sich für mich vorstellte, etwa ein Universitätsstudium und so weiter. Stattdessen habe ich dann mit knapp 20 Jahren die Nähe der Surrealisten gesucht und Breton getroffen, als er gerade in den Ferien war. Er sagte zu mir: »Wenn Sie in Paris sind, können Sie dorthin kommen, wo wir uns täglich versammeln.« Und dort bin ich Toyen begegnet, die damals unter den Leuten um Breton war. Sie interessierte mich sehr, weil sie nichts sagte. Und als ich mich in der Folgezeit Radovan Ivšić annäherte, mit dem ich dann zusammengelebt habe, kam ich auch Toyen näher, denn beide waren ehr eng befreundet war. Dazu muss ich sagen, dass ich in dem Moment, in dem ich die Surrealisten kennenlernte, selbst noch überhaupt nichts gemacht hatte: Ich war einfach nur da. Doch unter ihnen musste man nicht wie in vielen anderen avantgardistischen Gruppen etwas vorweisen.

Das war also möglich, es war kein geschlossener Kreis?

Nein, man konnte einfach so kommen. Natürlich musste man sich für gewisse Dinge interessieren. Ich habe auch in meinem Leben nie bestimmte Ziele verfolgt, habe aber dann mal etwas geschrieben und es Radovan Ivšić gezeigt, der es wiederum Toyen gezeigt hat. Und sie hat gesagt: Ich möchte dazu Bilder machen.

Poesie?

Ja, das war Poesie. Ich konnte es zunächst gar nicht fassen, aber sie wollte es unbedingt. Und so begann es. Natürlich war ich zu diesem Zeitpunkt bereits durch den gemeinsamen Freund nahe an ihr dran. Und als wir dann zusammenarbeiteten, konnte ich mich auch mehr äußern, denn davor hatte auch  ich nur wenig gesprochen. Bis zu ihrem Tod standen wir uns dann sehr nahe, und sie antwortete von nun an mit ihren Bildern auf mein lyrisches Werk. Ich hatte dieses Glück.

 

(3) Wie hat sich diese Zusammenarbeit gestaltet?

Mein Text war fertig, und dann hat sie ihrerseits etwas dazu gemacht. Doch sie illustrierte meinen Text nicht, sondern schuf dazu eine Resonanz. Und das war dann jedes Mal so. Wir haben nie darüber diskutiert. Ich brachte meins an, und sie tat das Ihre dazu. Nur über das Editorische, die Auswahl des Papiers, das Layout und so weiter, darüber haben wir gesprochen, denn das machte man in den surrealistischen Verlagen selbst, und Radovan Ivšić hat uns dabei sehr geholfen. Allerdings war mir damals noch nicht klar, was für ein Glück ich hatte, es fühlte sich einfach folgerichtig an. Und auch des Altersunterschieds von vierzig Jahren war ich mir damals nicht bewusst, weil sie sich mit mir auf einer Ebene bewegte! Aber das war typisch für die Größe und Großzügigkeit von Toyen, und ist bemerkenswert, wenn man sich jetzt ihren Werdegang anschaut. Radovan war ebenfalls zwanzig Jahre älter, aber so etwas hat mit Alter nichts zu tun. Sowohl die Kunst als auch die Revolte gegen das Leben, das man uns aufzwingt oder das wir akzeptieren, haben kein Alter. Toyen ist auch deshalb so faszinierend für mich, weil sie mit knapp achtzig Jahren noch genauso rebellisch war wie auf dem Foto mit siebzehn Jahren. Ihre Entschiedenheit, sich nicht von den Mittelmäßigkeiten des Lebens einfangen zu lassen, hatte nicht eine Sekunde lang nachgelassen. Und deshalb bin ich auch so froh, dass nun hier, in Prag und wohl demnächst auch in Paris, das Porträt dieser jungen Frau zu sehen ist, in dem man alles erkennen kann: den Wind, das, was man nicht kaufen kann, das, was sich nicht unterwerfen lässt – denn all dies wird ihr ganzes Leben lang ihr Schicksal bleiben.

 

(4) Was würde Toyen heute angesichts einer solchen retrospektiven Präsentation ihres Werkes spüren oder sagen? Liegt hier nicht die Gefahr einer Ein- bzw. Wegordnung in die Kunstgeschichte oder Geschichte allgemein, was ihrem Werk die verstörende Kraft nimmt?

Es gibt natürlich immer – und heute mehr denn je – die Gefahr einer Entfremdung, doch ich glaube, die Katalogtexte machen deutlich, dass Toyen sich nicht auf irgendetwas reduzieren lässt, und dann werden die Leute ja die Werke selbst sehen und darin genau das erkennen, was sich nicht unterwirft. Aber natürlich muss man da sehr aufpassen, und es ist die Rolle ihrer Freunde zu zeigen, dass man ihr Werk nicht vereinnahmen kann. Ich jedenfalls werde dafür sorgen. Doch man kann auch sagen, dass sie hier unter ihren Freunden ist: Friedrich, Cranach und all den bemerkenswerten Malern, die in der Kunsthalle versammelt sind. Toyen kannte die Geschichte der Malerei bewundernswert gut. Solange sie zwischen den Weltkriegen die Gelegenheit hatte, hat sie die Museen der Welt regelrecht heimgesucht. Sie war verrückt nach Bildern, Gemälden und dann denen des Kinos. Bis zu ihrem Lebensende ging sie jeden Abend ins Kino.

Was mochte sie besonders?

Nach Friedrich und Cranach die Italiener der Renaissance, und dann hatte sie die Chance, schon in den Prager Sammlungen die Großen der Moderne kennenzulernen. Dort gab es Werke des Zöllners Rousseau, die für sie ganz besonders wichtig waren. Denn im Jahr 1925 verfolgt sie eine Art Primitivismus, einen Stil, der primitiv erscheint, aber, wenn man genau hinschaut, alles andere als das ist. Dies entsprach der Bewegung des Poetismus, die es damals in Prag gab und deren Vertreter nach all dem Ausschau hielten, was nicht in die offizielle Kunstgeschichte integriert war. Dazu gehörte die Entdeckung der primitiven Kunst und ferner Länder ebenso wie ein großes Interesse für volkstümliche Maler und Spektakel wie Zirkus, Jahrmärkte und Akrobaten. Davon machte der mit ihr liierte Maler Jindřich Štyrský Unmengen an Fotos für sie. Und damit ist man auch im Universum von Rimbaud, dem sie ohnehin sehr nahesteht: Es geht darum, zu sehen, dass die Poesie überall ist, man nur anders schauen muss. Das gilt insbesondere für das volkstümliche Spektakel vom Jahrmarkt bis zur Music Hall. Doch auch da gilt ihr Interesse immer den Bildern. Es geht um die Frische des Blicks, wie man sie in der Kindheit mit der Fähigkeit, zu staunen und sich überraschen zu lassen, noch besitzt. Diesen Blick wird sie ihr ganzes Leben lang bewahren, doch vor allem in dieser Phase um 1925 erlaubt er es ihr, eine Distanz zu ihren puristisch-kubistischen Werken zu schaffen, die ihr dann zusammen mit Štyrský den Weg zum Abenteuer des Artifizialismus freimacht.

 

(5) Das kennt man kaum. Was ist Artifizialismus?

Das haben Štyrský und sie erfunden. Zunächst einmal geht es um die Idee, dass es keinen Unterschied zwischen Maler und Dichter gibt. Toyen bestand immer sehr darauf, keine Malerin zu sein, denn ihr gefiel der materialistische – handwerkliche und kaufmännische – Aspekt daran nicht. Sie verstand sich als jemand, der schaut. Es ging beim Artifizialismus um einen verfeinerten, vertieften Blick in den Raum zwischen Mensch und Ding. Was geschieht in den Tiefen des Raums? Da gibt es etwas wie Strömungen, Konkretionen, die man nicht unbedingt sieht, was uns aber etwas bringt, was dazu führt, dass das Leben uns mit Unerwartetem überrascht. Es geht um ein Nachdenken über Darstellung, mit dem eine Vertiefung des Bezugs zur Materie einhergeht. Und das ist sehr wichtig. In den Jahren von 1925/6 bis etwa 1934 stellen beide Reflexionen an und schaffen Umsetzungen, die genauso stark, aber subtiler sind, als 30 Jahre später die lyrische Abstraktion. Im Grunde haben sie beide das erfunden. Mich erinnerte das an Lautréamonts »membranes vertes de l’espace« (»grüne Raummembranen«), als würden Toyen und Štyrský zeigen, was das ist. Sie wollen ein Leben der Tiefen wiederfinden und die sexuelle Aufladung all dessen ermessen, was sich in der Tiefe der Lebewesen bewegt. Darin erkennt man die tiefen Beweggründe Toyens, die sie übrigens nie formuliert hat, und von dort aus gelangen Toyen und Štyrský dann auch zum Surrealismus. Wir stehen hier vor einer Seltenheit: Toyens Malerei denkt – sie denkt durch das Bild, geht vermittels des Bildes in die Tiefe.

 

(6) Welche Rolle spielt Toyen im Surrealismus bzw. umgekehrt?

Dank eines Erbes kommen sie in den Jahren 1926/27 nach Paris und organisieren dort Artifizialismus-Ausstellungen. Philippe Soupault zeigt Interesse und schreibt einen sehr schönen Text dazu. Dennoch halten sie sich abseits vom Surrealismus, denn der Aspekt des automatischen Schreibens überzeugt sie nicht. Sie sind gewissermaßen woanders, völlig absorbiert von ihrer Reise in die Tiefen des Raumes und unter die Meeresoberfläche.

Darin stoßen sie aber auf die Kraft der Erotik, den Motor dieser Welt. Für die Erotik hatte sich Toyen von Anfang an interessiert; so malte sie Anfang 1920 das unglaubliche Bild »Coussin« gemalt, das Menschen in allen möglichen erotischen Positionen zeigt. Sie dürfte damals die einzige gewesen sein, die so etwas gewagt hat. Dabei legt sie sehr viel Humor an den Tag, hat eine Art »erotischen Humor« entwickelt, der die Freiheit ihrer Persönlichkeit zeigt, vor allem auch einer Frau ihrer Zeit. Was sie malt, ist nie vulgär, sondern eher lustig, es zeigt eine enorme kindliche Freude. Damit erschafft sie etwas, was ich gerne »Turbulenz« nenne, was aus ihrer großen Freiheit hervorgeht und sie dorthin führt, wo noch niemand gewesen ist.

Das Interesse für das Erotische hat sie ihr ganzes Leben lang beibehalten, davon muss ich wirklich Zeugnis ablegen. Štyrský und sie nehmen ihre Entdeckung auch sehr ernst und befassen sich mit Pornographie und allem, was damit zu tun hat. So kommen sie in 1930er Jahren auch zu de Sade, Jindřich Heisler fängt eine Biografie von Sade an, und 1934 gründet Štyrský die Revue Erotique, die per Subskription funktioniert und drei Jahre lang erscheint, bevor sie von der Zensur abgeblockt wird. Toyen illustriert die Veröffentlichung von de Sades Roman Justine. Doch genau hier liegt die Verbindung zu den Surrealisten, die ebenfalls in den 1930er Jahren mehr denn je unter dem Einfluss de Sades stehen, denn Maurice Heine hatte sich damals für die Veröffentlichung von Sades Manuskripten eingesetzt, insbesondere Die 120 Tage von Sodom. Dieses Interesse ging so weit, dass am Ende der Revue La Revolution Surréaliste eine Rubrik eingeführt wurde, die »Actualités du Marquis de Sade« hieß. Die Entdeckung von de Sades Schriften hat die Betreffenden damals gegenseitig befeuert, sodass sie weitergingen, als sie es ansonsten getan hätten. Ich habe übrigens erfahren, dass Man Ray damals eine Etage unter Maurice Heine wohnte, während er die 120 Tage abschrieb, sodass Man Ray immer die gerade frisch abgeschriebenen Seiten las. Denken wir auch an Dalis »Femme démontable«, von Masson ganz zu schweigen.

Dieses Interesse an de Sade teilen also auch Toyen und Štyrský, sie unternehmen sogar 1932 eine Reise zu de Sades Schloss La Coste, das Toyen zu einem Gemälde inspiriert.

Neben der erotischen und der poetischen Gemeinsamkeit führt Toyen und Štyrský auch die marxistische Positionierung der Surrealisten (mit klarer Distanzierung von der autoritären stalinistischen Variante) näher an diese heran. So kommt es 1934 zur Gründung einer surrealistischen Bewegung in Prag, wozu Toyen beigetragen hat. Sie hat sich also keineswegs an eine bereits bestehende Bewegung drangehängt, sondern hatte stets ihren eigenen Weg.

 

(7) Wie erklären Sie sich diesen ebenso erschreckenden wie erhellenden Parallelismus zwischen dieser künstlerischen Erforschung der finstersten Abgründe des Menschen und dem unaufhaltsamen Emporkommen der Schrecklichkeiten des Faschismus in Deutschland und Russland und des Zweiten Weltkriegs – über die Tatsache hinaus, dass sich die Bewegungen des Dadaismus und Surrealismus auf die umfassende Zerstörung des Ersten Weltkriegs gründeten? Wie hat die in Bildern denkende Toyen dies erlebt und gesehen?

Es gab bei all diesen Menschen, denen ich damals begegnete, Breton, Toyen und so weiter, das Bedürfnis, den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen, ihn also nicht zu glorifizieren. Wir bestehen aus unseren Träumen, doch diese Träume transportieren auch all das Nächtliche. Breton spricht von »l’infracassable noyau de nuit« (»dem unzertrümmerbaren nächtlichen Kern«), einer außergewöhnlichen Formulierung. Ganz besonders Toyen wusste um die dunklen Kräfte, mit denen wir im Kontakt sind, sie war eine visionäre Person und besaß keine ideologischen Scheuklappen, die man sich ja je nach Bedürfnis anlegt, sondern hatte die Freiheit, zu schauen, was sich in den Abgründen auftut. Sie sah also oft Dinge lange, bevor sie für andere sichtbar wurden. So zeichnet sie den Horror des Zweiten Weltkriegs, bevor er eintritt, was viel stärker ist, als dies nachträglich zu kommentieren. Sie ermisst das ganze Ausmaß des Schreckens. Bestürzender Weise tut sie dies oft durch die Welt der Unschuld hindurch, beispielsweise zerstörtes Spielzeug oder brennende Tierskelette. Ihre Wahrnehmung des Wunderbaren ist so enorm, dass sie, auch wenn es um den Schrecken geht, auf dessen Höhe ist. Sie hat keine Vorurteile, sondern einen offenen Blick, ist aber genauso radikal zu Bruch und abruptem Handeln bereit. So versteckt sie in ihrer winzigen Prager Wohnung während des Krieges fünf Jahre lang den Dichter Jindřich Heisler und riskiert damit alles. Während der Bombenangriffe ging sie in den Keller runter, er musste oben bleiben. Außerdem gab es immer wieder Razzien bis in den vierten Stock direkt unter ihnen.

Was mich aber besonders erschüttert, ist die Tatsache, dass die beiden etwas daraus machen, nämlich sogenannte »photographismes« (Bearbeitung der Negative mit Nadel und Kleber) und das Buch Les casemattes du sommeil, »des poèmes réalisés« aus ausgeschnittenen Buchstaben, die Heisler ausschneidet und Toyen in Miniaturlandschaften hineinsetzt. Zwei Menschen, die in größter Gefahr und Enge lebten, schafften es, dieser Not den Weg ins Wunderbare entgegenzusetzen, einen großen Freiheitsraum zwischen zwei Polen, in dem keiner von beiden auf Kosten des anderen fallen gelassen wird.

 

(8) Machen wir einen Sprung in die Zeit nach dem Krieg. Es gibt einen Dokumentarfilm über Toyen, in dem man sie im Kreis der Surrealisten sieht, und zwar schweigen. Wie hat sich ihre weitere Entwicklung dann gestaltet?

Sie ist jung geblieben, und zwar nicht, weil sie nicht altern wollte, sondern weil das ihrem Geist entsprach. Und obwohl sie immer diskret und eine Einzelgängerin war, hat sie sich stets im Herzen einer kollektiven Aktivität befunden. Die Surrealisten haben einmal vom Kommunismus des Denkens (»communisme de la pensée«) gesprochen. Es gab unter ihnen dieses Zusammentun der Ideen und Gedanken, all dessen, was sie interessierte und erstaunte. Deshalb bezog sich der Surrealismus auch auf keine vorangegangene Avantgarde, sondern hier herrschte Freiheit. Es war das Genie von Breton, einen Ort geschaffen zu haben, an dem ein Austausch unter den Menschen möglich wurde – ein Austausch, der bewirkte, dass sie danach reicher waren, als wenn sie im kleinen Kreis geblieben wären. Das war sehr kostbar, auch eine Art und Weise, sich einerseits vor der niederträchtigen Welt (»du monde immonde«) zu schützen, und andererseits etwas möglich zu machen, was sonst nicht möglich gewesen wäre. Deshalb irren auch die meisten, was das Thema der Frauen unter den Surrealisten anbelangt, ich meine nicht Toyen, sondern die jungen Frauen, die dort auftauchten. Sie hatten meistens selbst noch nichts geschaffen, fanden sich aber plötzlich in einem Klima wieder, in dem alles möglich schien und auch so gesehen und angenommen wurde. Deshalb hielt auch Toyen bis zum Schluss an diesen Treffen fest. Sie bereicherten jeden und machten ihn im Grunde freier, weil einen die Freiheit des anderen eben freier macht. Demgemäß wählte sie auch ein bisschen ihre Freunde aus. Und ich denke, dies gilt auch umgekehrt für die Menschen, die Toyen begegnet sind: Ohne diese Begegnung hätten sie nicht machen können, was sie dann gemacht haben. Das gilt auch für mich. Und ihr war das sehr bewusst.

Und wie haben Sie Breton erlebt, der doch wohl immer einen zentralen, wenn nicht beherrschenden Platz eingenommen hat?

Toyen hatte damit überhaupt kein Problem, sie musste sich nicht als Frau behaupten. Man muss sich Breton aber auch körperlich vorstellen, denn er besaß eine natürliche Autorität. Es gibt eben solche Leute im Leben, in der Tierwelt ist es auch so: Löwen und Adler gebärden sich anders als Hasen. Das mag schade, sein ist aber so. Breton war intellektuell stark und tat, was er sagte; nichts von den Träumen seiner Jugend hat er je verraten. Das haben ihm manche nicht verziehen. Und er konnte einem zweifellos auch auf die Nerven gehen. Vergessen wir auch nicht, dass diese Menschen sehr leidenschaftlich waren, und vor allem in den Zwischenkriegsjahren war viel Gewalt unter ihnen spürbar, eine intellektuelle und ideologische Gewalt. Auch Breton war ein Hitzkopf, wenn es die Sache erforderte. Desgleichen konnte er aber auch sehr charmant und reizend sein. Und für Toyen war das alles keine Frage. Um 1935 schrieb Breton ihr die Widmung in ein Buch: »Toyen, mon amie entre toutes les femmes« (»Toyen, meine Freundin unter allen Frauen«). Sie war seine Freundin, und sie hat ihn ebenfalls als Freund betrachtet – doch im Sinne eines Freundschaftsbegriffs, der auf der Freiheit eines jeden beruhte.

 

(9) Toyen hat auch 1968 noch miterlebt. Wie hat sie die neue Zeit, die damit begann, erlebt?

Mit Freude. Nur konnte sie nicht mit auf die Demos gehen, denn erstens war sie schon etwas älter und dann lief sie als Ausländerin Gefahr, ausgewiesen zu werden, wäre sie festgenommen worden. Ich aber ging hin, und sie schätzte das. Doch in dem Moment, wo im Außen größere sexuelle Freiheit erkämpft wurde, setzt bei ihr ein erneutes Vertiefen der damit verbundenen Fragen ein. Kurz gesagt, als alles einfacher wird, kehrt sie zu de Sade zurück und malt das Bild »Une chambre secrète sans serrure« (»Ein geheimes Zimmer ohne Schloss«), das wir für die Ausstellung nicht bekommen haben – eine Reflexion zu Begehren, Sehnsucht und Liebe. Was verbindet beides? Nach meinem Verständnis ist dieses Bild, sein Titel, eine Definition der Liebe. In diesem Moment entdeckte man übrigens auch das Manuskript »Le nouveau monde amoureux« (»Die neue Liebeswelt«) des Utopisten Charles Fourier wieder, das von seinen Schülern verschleiert worden war. Darin stellt er die Überlegung an, dass die Französische Revolution es versäumt hatte, die Ehe und traditionelle Familie abzuschaffen. Fourier führt alles auf die leidenschaftliche Liebesanziehungskraft zwischen den Lebewesen bis hin zu den Elementen und den Sternen zurück. Und genau dies entspricht der Suche Toyens in ihrem Spätwerk.

Was Toyen an der 1968er-Bewegung aber noch wichtiger als die sexuelle Befreiung war, ist die Sehnsucht, anders zu leben. Ihre großartigen Bilder aus dieser Zeit, zeigen, wie sehr sie in diesen Ideen drin war.

 

(10) Zum Schluss die Frage: Was würde Toyen zu der heutigen Welt sagen, in der sich ja alles, was mit dem Bild zu tun hat, völlig verändert hat?

Sie war immer gegen die Dummheit, gegen die Kleinheit, gegen alles, was die Wesen reduziert, und hat sich stets gegen alle Kategorien verwahrt, indem sie sagte, sie sei kein Maler und noch viel weniger eine Malerin. Sie wollte auch von ideologischer, etwa feministischer Vereinnahmung und Reduktion nichts hören, geschweige denn von Vorschriften und Verboten, dergleichen brachte sie außer sich. Sie war also sehr fern von allem, was Lebewesen zu kategorisieren, festlegen und damit reduzieren versuchte. Irgendeine vorgefertigte Identität zu akzeptieren wäre für sie völlig undenkbar gewesen. Das ist, als wolle man ein freies, wildes Tier in einen Käfig sperren.

Soweit ich hören kann, gilt dies auch für Sie, Annie?!

Es geht um aktive Nichtunterwerfung, eine Form von Souveränität.


Und hier ist das Interview mit Annie Le Brun in einem Stück zu hören/Et voici l’interview avec Annie Le Brun de façon continue: