Von Wegen der Bühne

Die Festivals klub katarakt und blurred edges in Hamburg.

Welche Bühne für welche Musik? Wieviel Bühne verträgt welche Musik? Oder verhält es sich nicht eher so, dass Klang im Erklingen und Gehörtwerden sich seine ureigene imaginäre „Bühne“ schafft, die jede konstruierte entgrenzt, transzendiert und letztlich destruiert? So mag es selbst in traditionell-bürgerlicher Aufführungspraxis Glücksmomente geben, welche die Hörer aus ihrer seit dem späten 18. Jahrhundert bühnentechnisch-intendiert passiven Rolle herausreißen und ausbrechen lassen aus harmlosem l’art pour l’art-Genuss in das widerspenstig Lebensverändernde von Kunst. Das Einzäunen von Kunst in vom Leben absondernde Räume wie Museen und frontal inszenierende Konzerthallen kann das unzähmbar Rebellische von großer Kunst durchbrechen. Denn diese ist absolut zeitlos und unendlich planlos.

Doch dies Entgrenzende hat sich im Kontext der modernen Avantgarde des 20./21. Jahrhunderts auch die „aktuelle“, „neue“ oder „zeitgenössische“ „klassische“ Musik explizit auf die Fahnen geschrieben. Das Zögern zwischen den Begrifflichkeiten gehört schon dazu, denn wie definiere ich das, was sich doch definitiv entziehen soll? Und dem schließt sich notwendig die Frage nach dem Ort für Musik an, welche die überlieferten Verfasstheiten und dementsprechenden Wahrnehmungsgewohnheiten immer wieder neu aufbrechen will und muss, um Platz zu schaffen für das Unberechenbare. Insofern ist und bleibt die Frage nach der Bühne als eine zugleich nach der Rolle des Publikums eine hartnäckig vorantreibende für Musik, deren Suche dem „Neuen“ und also dem Suchen gilt.

Dass Berechenbares allerdings weit eher auf willige Ohren stößt, bleibt in der Praxis meist eine ernüchternde Erfahrung, dann, wenn auch noch so „klein“ angedachte Konzerte mit „neuem“ Programm leer bleiben. So hat es die zeitgenössische klassische Musik bis heute nur an wenigen internationalen Musikstätten geschafft, die Neugierde eines breiteren Publikums zu erobern; und auch dort bleibt es tendenziell eines von Insidern und erneuert sich nur zögerlich.

Auch in der „weltoffenen“ Hafenstadt Hamburg ist es nicht anders. Zeitgenössische MusikerInnen in Hamburg mussten, müssen weiterhin und wollen sich und erwünschten Gästen Auftrittsmöglichkeiten selbst schaffen, wollen sie nicht im Warten auf seltene öffentliche Einladungen erlahmen. Dass diese Not eine Chance war und offensichtlich bleibt, auch wenn reichlichere Förderung aus öffentlichen(=ihren=unseren) Töpfen zu wünschen wäre, zeigt sich in der Entwicklung zweier mittlerweile etablierter Hamburger Festivals aktueller Musik, die organisatorisch und athmosphärisch unterschiedlicher kaum sein könnten: klub katarakt und blurred edges.

Beide konnten 2015 auf stolze 10 Jahre Erfahrung zurück- und das 11. Jahr vorausblicken.* In beiden Fällen sind die Kuratoren die Initiatoren der Festivals und verwalten diese autonom. Und sie wirken gleichzeitig selbst als KünstlerInnen beim Festival mit. Das sei etwas ganz Besonderes und mache daraus eine „Herzensangelegenheit“, unterstrich die Intendantin Amelie Deuflhard in einem Gespräch mit den Kuratoren von klub katarakt (Jan Feddersen, 4.12.2015). Diese Doppelrolle ermögliche eine innige Nähe zu dem Programm und sensibel-spontanes Reagieren während seines Ablaufs. Gleiches gilt für blurred edges.

klub katarakt hat nach einer Wanderung durch unterschiedlich herausfordernde Hamburger Bühnensituationen 2009 in drei der ehemaligen Fabrikräume der Kulturfabrik Kampnagel ein flexibles Bühnenkonstrukt aus drei offenen Räumen gefunden, während blurred edges aus der Raum-Not eine Tugend gemacht hat und gerade in der Vielfalt und Verstreutheit der Bühnenorte ihr eklektisch-transformatorisches Signum gefunden hat und jedes Jahr neu erfindet. Aus den Ufern überlieferter starrer bürgerlicher Aufführungspraxis zu treten gewillt und immer wieder neu aufgefordert, sind beide.

Als Amelie Deuflhard klub katarakt in die Kulturfabrik Kampnagel holte, war das einer ihrer vielen klugen Glücksgriffe. Denn wo kann sich experimentelle Musik besser entfalten als in Räumen, die selbst ein fortgesetztes kulturelles Bühnenexperiment darstellen. Seit 1982 das deutsche Schauspielhaus Hamburg die 1981 stillgelegten Kran-Produktionshallen als Ausweichquartier nutzte und 1982 im Namen von FESTIVAL BESETZUNGSPROBEN freie Hamburger Theatertruppen hier Zuflucht suchten, bietet Kampnagel Theater-, Literatur-, -Musik und ganz besonders Tanz-QuerdenkerInnen und –macherInnen Innen- und Außenräume von größter Wandelbarkeit. Letztere entdecken und nutzen zu lernen, auch die heikle Akustik, wurde für das Team von klub katarakt zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung. Jan Feddersen (2005 bis heute) und Jan Dvorak (bis 2011), Robert Engelbrecht (seit 2012), und Ernst Bechert (ab 2015/6) erkannten die Offenheit der Bühnensituation als entscheidendes Basiselement für Konzeption und Inszenierung des Programms und folgerichtig auch die Wahl der eingeladenen GastmusikerInnen. So lassen sich die TeilnehmerInnen jedes Jahr durch die Dramaturgie der Eröffnungskonzerte überraschen, in denen die drei aneinander grenzenden Festivalräume mal gleichzeitig wie im MUSICIRCUS von John Cage 2012, die ZuhörerInnen der Qual der Wahl oder dem Co-Hören aussetzte, in variablem Wechsel oder nacheinander bespielt werden. So leiteten 2010 unter dem Motiv „Das Nahe und das Ferne“ Klänge eines Straßenmusikers aus Burkina Faso das Auditorium in den ersten Raum, in dem dann u.a. auch John Cages Radio Music zu hören war. Doch, als währenddessen fern im dritten Raum ein Chor intonierte, war das Auditorium auch von einer Kordelschranke nicht mehr aufzuhalten, dem Klang zu folgen, obwohl dies gar nicht intendiert war. „Danach haben wir angefangen, Konzepte zu entwickeln, die das Publikum ohne Worte nur mit Musik und Aktionen durch die Hallen führen“, erinnert sich Jan Feddersen.

Während klub katarakt an vier Januartagen des Jahres (2016 vom 13. – 16.1. mit Christian Wolff als zentralem Gast) in ihre raum-wohltemperierte Bühnenenfilade einlädt, experimentiert und lockt das Festival blurred edges im warmen Juni reichliche zwei Wochen lang (2016 vom 4. – 19.6.) und weit verstreut in Hamburgs Stadtlandschaft in ein heteroklites Gefüge von Innen- und Außenräumen, die schon als kleine Neue Musikinseln von Insider-Szenerien bespielt und goutiert werden, aber gerne von einem breiteren Publikum erobert werden wollen und sich demgemäß einmal im Jahr sichtbar untereinander vernetzen. „Die teilnehmenden KünstlerInnen schicken das Festivalpublikum mit dem Ziel auf Entdeckungsreise, neue Orte zu entdecken, die Sinne zu weiten und sich in neuen Umgebungen auf einen Perspektivenwechsel einzulassen“, heißt es auf der Webseite www.blurrededges.de, ein Programm ganz im situationistischen Sinn der Neuerwanderung einer städtischen Psychogeographie durch Umherschweifen. „Der Gedanke von verwischten und unklaren Genregrenzen durchzieht blurred edges auf mehreren Ebenen, auch das Publikum wird aktiv in Konzerte und Interventionen miteinbezogen“. Die politische Dimension als Gegenentwurf gegen eine Kulturbehörde von Elbphilharmonie-Bühnenentwürfen sei aus der Initiative des Festivals nicht wegzudenken, unterstreicht Heiner Metzger.

Die dem Namen blurred edges inhärente Intention, traditionelle Grenzen zu verwischen und gewohnte Kanten und Ecken unscharf zu machen und somit Verwirrung und Neuorientierung zu provozieren, dehnt sich vom künstlerischen Konzept in demonstrative Bühnenvielfalt und –unart aus. Alles darf durch performatives Stattfinden von Klang und Stille zur Bühne umgedeutet werden, auch öffentliche Stadträume oder Orte, die keine sind. Als Bühnen benutzte oder deklarierte Räume werden in Bühnenfremdes umbenannt, also „ent-bühnt“. Allein wenn man die Namen der Veranstaltungsorte liest, entsteht ein poetischer Sound, der eine imaginäre neue Stadtlandschaft entwirft: Baustelle eins, Bunkerrauschen, Centro Sociale, Gängeviertel, Golden Pudel Club, Golem, Hafenbahnhof, Hanseplatte, Haus 73, Hörbar, Kraniche bei den Elbbrücken, Kulturdeich Veddel, Mojo Club, MS Stubnitz, Nowa Huta, Nusstafa, Pavillon im Schulgarten des Altonaer Volksparks, Wartehäuschen Döns im Museumshafen Oevelgönne…. 61 Konzerte an 39 Orten waren es 2015. 2016 ist erst in Planung. *(s.o.)

Doch gerade der Charme solch offener Vielfalt und gewollter Verstreutheit bedarf einer wachen Koordination. In der übt sich der Verband für aktuelle Musik Hamburg (VaMH) in den Musikerpersönlichkeiten von Gregory Büttner, Xiao Fu, Gunnar Lettow, Michael Maierhof und Heiner Metzger, die sich eher als Koordinatoren zwischen den beteiligten Spielstätten und KünstlerInnen denn als Kuratoren verstehen. Sie „möchten die Freisetzung neuer Kräfte ermöglichen, jedoch nicht diktieren“, legen lediglich „einen Zeitrahmen, einen Möglichkeitsraum“ fest. „Der Reiz eines Produzenten-Festivals gegenüber einem kuratierten Festival liegt im Unvorhersehbaren“.

Im Fall beider Hamburger Festivals – blurred edges und klub katarakt – sind die jeweiligen Konzeptionen und ihre räumlichen Umsetzungen aus dem experimentell umdeutenden Umgang mit Realitäten und Sehnsüchten heraus entstanden.

*(Dieser Beitrag wurde am 20.12.2015 verfasst. Veröffentlicht in: positionen. Texte zur aktuellen Musik, 106, Februar 2016)

© Jorinde Reznikoff 20.12.2015