Provokantige Volksmusik

© Jorinde Reznikoff

»Alpenmusik« hieß das Festival der Elbphilharmonie Konzerte, das zwölf Gruppen vom 22. – 25.4.2015 aus Süddeutschland, Österreich und der Schweiz an die Elbe holte, nicht etwa auf den unvollendeten Gipfel der Elbphilharmonie, sondern in den Keller des Mojo-Clubs an der Reeperbahn. 

Was mit einem surrealistischen Auftakt von Alphörnern vor den tanzenden Türmen leicht schief begann, entwickelte sich zu einer aufregend-großartigen Entdeckungsreise durch Klänge, die mit „Volksmusik“ in klischeehafter Vorstellbarkeit so gar nichts zu tun haben, dagegen von einem radikal-lebendigen Umgang mit tradierten Klängen zeugen. Der entführt in wohl- bis schrägtönende, dadaistische und einfach tief berührende Klangräume, gewebt aus subtilem Jazz, traditionellen Liedern und klassischer Musik, die über sich und ihre Virtuosität selbst hinauswächst.
„Man muss die Musik einfach frei lassen“, der „Lustbarkeit“ Raum geben, sagt Leonhard Paul von der Blechbläsergruppe MNOZIL BRASS. Mit dieser und vier weiteren Musikern hatte ich das Vergnügen zu sprechen: der Oberammergauer Band KOFELGSCHROA, dem ENGEL-CHÖRLI aus Appenzell, dem Wiener Duo ATTWENGER und dem Duo SCHIRMER-ZEHNDER mit der Hackbrettrevolutionärin Barbara Schirmer und dem Stimmzauberer Christian Zehnder.

Tatsächlich erlebte ich eine wundervolle Entdeckungsreise durch das Multitalent „Volksmusik“ mit ihren Neuerfindern und Umdenkern, deren Begegnung mir neue Klanglandschaften erschlossen und tiefe Berührung von Ohr und Herz ermöglicht hat. 

Interviews und Reflexionen sind hier im Folgenden zu hören und zu lesen. 

A propos folk music als Auftakt John Lydon am 6.7.2008 in Bobital (Noramandie) auf einer mitternächtlichen Pressekonferenz. Die Sex Pistols waren nach 30 Jahren wieder da:

 

Engel-Chörli Appenzell

http://www.engel-choerli.ch/presse.html
Nachweis: www.engel-choerli.ch/presse.html

Anschließend an einen Jodelworkshop sprach ich mit Emil Koller, dem Leiter des Chörlis, der einzigen traditionellen Volksmusikgruppe des Festivals.
Das Jodeln sei eine Improvisationstechnik, welche überall auf der Welt funktioniere und der universellen Verständigung diene: Von der ursprünglich lokalen Verständigung von konkretem Ort zu konkretem Ort (Berg/Alm) zur grenzenlosen Verständigung über alle geographischen, kulturellen und auch emotionalen Grenzen hinaus. „Wenn wir mit unseren Freunden von Moskau zusammen sind, können wir nicht miteinander reden, aber singen können wir ganze Nächte lang, da gibt es keine Grenzen“, schwärmt Emil Koller. Der Appenzeller Jodel sei sehr wehmütig, er berühre die Seele, oft kämen dem Publikum die Tränen. Gewiss hat dies tiefe Berührtwerden etwas mit der Grundstruktur des Jodelns zu tun. Wie die aller musikalischen Urtraditionen beruht sie auf dem Reproduzieren der Obertongesetze, welche der Klanganatomie des psycho-physiologischen Verfasstheit von Mensch und Umwelt zu Grunde liegt. Siehe dazu auch → und Höre das Interview mit Emil Koller vom Engel-Chörli:

 

Duo Barbara Schirmer – Christian Zehnder. Von der Nähe der Ferne.

© Jorinde Reznikoff
© Jorinde Reznikoff

Barbara Schirmer, Hackbrettverwandlerin, und Christian Zehnder, Stimmakrobat und Lauschvirtuose, sitzen mir gegenüber und erzählen von dieser allerersten Begegnung des Hackbretts mit der menschlichen Stimme. Es scheint ein alpinistisches Unterfangen zu sein, eine Gratwanderung zwischen zwei Gipfeln, die höchste Konzentration und risikobereite Spielfreude zugleich verlangt und dann unerwartete Öffnungen zu unerhörten Klanglandschaften hin freigibt. Denn durch den gemeinsamen Obertonreichtum sind Hackbrett und Stimme zugleich miteinander verwandt und doch sehr weit voneinander entfernt. Und dann gilt es auch, den globalisiert distanzierenden Folklorekitsch von Jodelei und Hackbretterei zu durchkreuzen, um von den Ursprüngen her ins Herz dieser Musik zu treffen.

Christian: „Unsere Musik ist eine sehr schwebende, feinstoffliche und ätherische Musik. Sie bewegt sich auf „Grenzpfaden, gerade was neualpine Musik anbelangt. Es gibt kaum etwas in der Schweiz, was nicht mit den Traditionen bricht. Da gehören wir zu denen, die zwei, drei Schritte zurückmachen, um einen Schritt nach vorne zu machen. Wir gehen zu den archaischen Grundlagen zurück und auch zu den Einflüssen von außen, so wie das Hackbrett aus dem Osten kam und auch die Gesänge aus extrem verschiedenen Kulturen beeinflusst wurden.“ Im Gegensatz zu Christian Zehnder, der von Avantgarde und Jazz aus im eigenen Schweizer Umfeld auf die Suche gegangen ist, darin zuerst Provokation und situationistisches Spiel gesucht und dann eine befreiendeWelt entdeckt hat, kommt Barbara Schirmer ganz aus der Volksmusiktradition. Ihre Ausgangsfrage sei gewesen, was sie damit anfangen könne. Auf einer Reise in Lateinamerika hat sie die eigene Musik wiederentdeckt. Lebendigkeit und Ursprünglichkeit traditioneller Musik gegen Kulturimperialismus der sogenannten „World Music“.

Gespräch mit Barbara Schirmer und Christian Zehnder

 

Kofelgschroa

© Jonas Kraus
© Jonas Kraus

Entdeckungen, Grund für Begeisterung und tiefes Berührtsein gab es bei diesem Festival wahrhaft am laufenden Meter der zwölf Konzerte. Und es freut mich, das zu sagen. Doch eine Band hat mich in ihren Bann gezogen, ihre Lieder hüpfen seither wie Steine von Wasser zu Wasser und verteilen Poesie, die streichelt und wärmt. Aus Oberammergau. Kofel heißt der Berg dort. Für Gschroa hat der Oberammergauer Gärtnermeister Freißl sie befunden. Kofelgschroa heißt sie.

Vier junge Männer treten auf die Bühne, stehen da und nehmen sich Zeit. Machen nichts her. Aus Holz geschnitzt könnten sie sein, langsam und einfach und sorgfältig jede Rundung und Ecke, und nachlässig scheinbar doch wie die verstimmte Gitarre, das ein wenig leiernde Akkordeon, die leicht verbeulten Blasinstrumente und die Helikontuba, die um den Hals des unermüdlichen Tubisten gewickelt ist, als könnte es anders nicht sein. Stehen bewegungslos und beginnen dann. Einfach. Mit haargenau schleppenden Rhythmen, glasklar blechernen Klangwänden und Worten. Aus dem Alltag sind die, AllerWeltsWörter, und aus Oberammergau, da kommen sie her. Die reihen sich aneinander und bilden Sätze, die manchmal welche werden, manchmal nicht. Und die sind so schön. „Ich habe eine Blume gegossen und irgendwann hab ich mit der Pflege abgebrochen. – Bin verreist“. „Die Wäsche trocknet an der Sonne, die Wäsche trocknet am Wind, die Wäsche trocknet auch am Licht. Wie schön ist das eigentlich…“ „Wenn’s Zähnputzn ned so anstrengend war i scho lang im Bett.“ Unheimlich einfach und genau und unfassbar selbstverständlich wehmütig ist diese Lyrik, die zu dem Wundervollsten gehört, was ich seit langem gehört habe. In Musik gefasst, die so präzise ist, dass sie etwas Schiefes bekommt. Und, als wäre das nicht genug, heißen ihre Kreateure, diese Musiker-Handwerker, auch noch Matthias Meichelböck, Michael von Mücke, Martin von Mücke und Maximilian Pongratz. Wie schön ist das eigentlich?

Gespräch mit Matthias Meichelböck, Michael von Mücke, Martin von Mücke und Maximilian Pongratz, um Mitternacht in der Herrentoilette, aufgezeichnet.

Attwenger

Nachweis: attwenger.at/
Nachweis: attwenger.at/

Das letzte Konzert von zwölf des viertägigen Festivals steht bevor, es zieht sich, wie das am Ende so ist, die Band (Markus Binder und HP Falkner) scheint das zu genießen, weidet die Lage aus, unendliche Vorbereitungen scheinen nötig, das hat System, Technik und so. Und das Styling ist sogar noch für das Interview wichtig, nach dem Duschen, es findet in letzter Minute doch statt, ich bin eigentlich schon längst gegangen. Aber dann gibt es ein bisserl was zu hören für die Journalistin, die sich gerne bitte auch unwohl fühlen darf. Tut sie aber nicht. Auf meine Frage nach Verortung und Anliegen kommen dann Stichwörter wie Dadaismus, Kunst, Rap, konzeptionelle Überlegungen und andererseits auch die Bedeutung des traditionellen Backgrounds. Dialekt und Ziehharmonika werden als subversive Elemente geliebt und umgedeutet und schlagen mit dem Zeug, das da schlägt, allen musikalischen Kategorien ein Schnippchen, und dem Politischen durchaus auch, ja klar. Provokantige Tanzmusik mit Schmäh – das lässt sich hören.

Gespräch mit Markus Binder.

Mnozil Brass

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Backstage empfangen acht Kerle diese Journalistin, die Weißweingläser randvoll, ein Auftakt vor dem Auftritt, so wünschen sie das Interview. Könnte ja eine Gaudi werden, die legen wir aufs Kreuz, gedreht und verkehrt wird alles, was geht, mit Gehör und Genuss, das Konzert kann kommen. Soundso, denn die können es einfach. Und das ist vielleicht ihre einzige Schwäche, zuweilen fehlt die Gefahr, die verletzlich macht. Doch diese Journalistin da ist mit Dada und Co gewappnet. Nach ein paar Minuten ironisch-sarkistischer Exerzitien wird’s plötzlich ernst, tief und innig.

Gespräch mit Wilfried Brandstötter, Gerhard Füssl, Thomas Gansch, Leonhard Paul, Robert Rother, Roman Rindberger und Zoltan Kiss.