Mein Leben ist ein Traum. Wirklich. Ein Gespräch mit Manuel Legris, Direktor des Wiener Staatsballetts

 

Am 17. März 2018 wäre Rudolf Nurejew 80 Jahre alt geworden. Und würde er noch leben, stünde er bis heute an der Stange, um wider alle physischen und politischen Blockaden das Leben aus sich herauszutanzen. Doch er starb 1992 an Aids – zu einer Zeit, wo sich das nicht gehörte und für einen stolzen Athleten wie ihn schon einmal gar nicht. Seine Tänzer erlebten sein Sterben hautnah mit, denn bis zuletzt studierte er mit ihnen seine letzte Schöpfung „La Bayadère“ ein – eine letzte Revolution all der Ballettklassiker, welchen er, der freche Rebell aus dem Tartarenland, zeitgemäßes Leben einhauchte und zeigte, wozu klassisches Ballett in der Moderne fähig ist. Was Tanz kann. In diesem Affront „Rudolf Nurejew“ sind Kalter Krieg und Perestroika, das prometheische Spiel mit dem Feuer, apollinische Eleganz auf der Spitze von Eisbergen, qualvolle Abstürze und Aufschwünge in die Freiheit innig miteinander verwoben. Doch was feiern wir, wenn wir in diesem Jubiläumsjahr dieses Künstlers gedenken? Eine Legende – und wenn ja, was macht eine Legende mit den Lebenden? Was bleibt über dieses vergängliche Monument von Stärke und Zerbrechlichkeit hinaus?

Doch Rudolf Nurejew strahlte nicht nur selbst, er gab sein Strahlen an andere weiter – in erster Linie an eine ganze Generation von Tänzern an der Pariser Oper. Einer von ihnen hat all das mit besonderer Aufmerksamkeit und Demut aufgesogen und betrachtet es bis heute als seine Aufgabe, das Gelernte an die Folgegenerationen weiterzugeben: Manuel Legris, seit 2010 Direktor des Wiener Staatsopernballetts. Wer ihn hat tanzen sehen, fühlte sich fortgehoben in eine lichte Leichtigkeit, ob Tanzkenner oder nicht, ob in einer der vielen modernen Choreographien, still reduzierten oder virtuos fordernden Choreographien oder – sogar – naiv anmutenden Prinzenrollen. Es geht nicht um das Was, sondern um das Wie dieser Kunst. Doch wie geht das? Und wie sieht Manuel Legris seine Kunst heute? Welches Wissen ist ihm kostbar, welche Erfahrungen möchte er weitergeben?

Während man mich durch die labyrinthischen Backstage-Gänge hoch hinauf in die Chefetage gleich neben dem Probensaal führt, nicht ohne durchblicken zu lassen, dass mir eine Ehre gewährt wird, gedenke ich der Ambivalenz zwischen künstlerischer Präsenz und menschlicher Person und frage mich, welchen Manuel Legris ich wohl in der persönlichen Begegnung erleben werde. Und da sitzt er, ein zierlich-kraftvoller, quicklebendiger Mensch hinter seinem Direktionsschreibtisch, das Fenster geöffnet, frischer Wind und Sonne wehen in den kleinen bescheidenen Raum herein, der reichlich Platz für Neues bietet. Wo ich denn sitzen wolle, fragt er, elegant, einfach und direkt, ja freundschaftlich; das schwarze Hemd deutet leise seine repräsentative Funktion am Abend an, bequeme Hose und legere Schuhe verraten, sobald er aufspringt, den Tänzer. Und trotz der Raymonda, die in einer Stunde beginnen soll, geht keine Eile von ihm aus, denn dann wird er selbstverständlich seinen Tänzern beistehen, ebenso bereitwillig wie er jetzt auf meine Fragen eingeht – alles gebend, was gerade aus ihm hervorsprudelt, sich überschlagend, ungeordnet, zuweilen widersprüchlich, weil alle Aspekte zugleich mitbedenkend, sie in gewohnt tänzerisch-virtuoser Koordination als ein holographisches Ganzes abbilden wollend; liefert keine schnellen Antworten, sondern eilt seinen Gedankenblitzen hinterher, liefert nichts Vorgefertigtes oder auf publicitywirksame Statements Reduziertes. Und vor allem: ganz und gar begeistert.

Doch so wunderbar diese Begegnung auch war, so schwer schien mir im ersten Nachsinnen diese Verbindung aus Leidenschaft und Desinteresse an Selbstdarstellung im geschriebenen Wort vermittelbar, denn sie drohte, dem flüchtigen Ohr als widerstands- und widerspruchslos zu erscheinen – zu glatt und einfach. Erst beim genaueren Hinhören zeigt sich, dass dieser leichtfüßige und allzeit sprungbereite Künstler die Stolpersteine in seinem Leben stets als Einladung zu Neuland sah – eine Aufforderung zum Tanz. Doch signifikante Ecken und Kanten, lauernde Dunkelzonen, verborgenes Leid, #me too oder so, kurz Schlagzeilenträchtiges – all das, was Leute und Presse hören wollen und beim Thema Ballett auf der Hand zu liegen scheint, war hier nicht zu finden.

Mein Ansatzpunkt für dies Gespräch sei, wie er wisse, der 80. Geburtstags seines Lehrers und Mentors Nurejew, ob es ihm nicht inzwischen auf die Nerven gehe, immer wieder darauf angesprochen zu werden.

„Aber nein, absolut gar nicht, wie könnte ich denn! Die Frage ist eher, wie ich auf der Höhe dieser Hinterlassenschaft sein kann. Seitdem ich hier in Wien bin, denke ich oft an ihn, denn wir beschließen ja jede Saison mit der Nurejew-Gala und ehren ihn damit regelmäßig. Dieses Jahr ist es ein bisschen speziell und ich zerbreche mir gerade den Kopf darüber, wie wir ein Programm gestalten, das wirklich mit Rudolf Nurejew und seinen Anliegen zu tun hat. Da kommen Sie gerade richtig.“ Und neben der Einladung interessanter Gastkünstler gehöre wesentlich dazu, neue Talente – Tänzer und Choreografen – aus den eigenen Reihen, also dem Wiener Staatsopernballett selbst vorzustellen. Gegen das klassische Image, das ihm zwar zurecht, aber einseitig anhaftet, betont Manuel Legris immer wieder, wie wichtig es ihm sei, unbekannten Choreografen und Tänzern eine Chance zu geben und damit das internationale Starsystem, welches sich auf Kosten des künstlerischen Gehalts leider auch im klassischen Tanz durchgesetzt habe, zu unterminieren.

Er erinnert daran, wie entscheidend es sei, sich den Teamgeist bewusst zu machen, wenn man die Strahlkraft der Nurejew-Generation verstehen möchte. Sie hätten damals wirklich als Compagnie zusammengearbeitet – unter der ebenso fordernden wie begeisternden Führung Nurejews, dem sie bedingungslos vertrauten. „Es mag seltsam klingen, aber ein bisschen wie eine Sekte“. Und dennoch, fügt er, letzteres dementierend, hinzu, seien sie alle sehr unterschiedliche Tänzerpersönlichkeiten gewesen. „Die Generation Nurejew, das waren zehn oder sogar fünfzehn Danseurs Etoile und alle anders! Das trifft auch für die Frauen zu – von Guérin zu Guillem, Maurin, von Loudières zu Platel – keine glich der anderen. Egal auf welche Besetzung man traf, es war jedes Mal wow und ließ niemanden unberührt. Das ist vielleicht die Magie von Monsieur Nurejew.“ Und das ganz ohne Instagram – die heute obsolete individuelle Imagepflege.

Ob der Umgang mit einer Diva, denn die war Nurejew ja und wollte er sein, nicht schwierig gewesen sei?

Diese Seite habe er zwar wahrgenommen, sie habe ihn aber nicht geprägt, da er Nurejew tagtäglich als unermüdlich harten Arbeiter erlebt habe, dem bewusst war, dass er seinen „Erfolg nicht nur seinem photogenen Gesicht verdankte oder der Tatsache, dass er Russland verlassen hatte, sondern dahinter stand eine außergewöhnliche Leidenschaft für das Tanzen, um das sich sein ganzes Leben drehte.“ Manuel Legris ringt um Worte, um seiner Liebeserklärung an den Tanz angemessenen Ausdruck zu verleihen. „Letztlich zählte für ihn nur der Moment auf der Bühne, wenn der Vorhang sich öffnete, das Publikum auf ihn wartete – er lebte einzig und allein dafür. Und das bis zum Schluss.“ In der Tat gibt es Bilder, die den todgeweihten großen Künstler bei dem Premierenapplaus seiner letzten Choreografie, der Bayadère, zeigen – das Feuer der Begeisterung funkelte immer noch in seinen Augen. „Und das ist es, was vor allem anderen bei mir hängen geblieben ist – seine ungeheure Leidenschaft. Sie hat mich geprägt, und sie verbindet mich mit ihm bis heute – trotz meiner natürlich völlig anderen Herkunft und Geschichte. Für mich läuft alles – Direktor an diesem Haus zu sein, Choreograph und Tänzer – darauf hinaus, dass ich das einfach so sehr liebe! Und für eine solche Liebe ist man bereit, aufzugeben.“

Für die, die von Nurejew lernten, ist er also keine ferne Legende, sondern unversiegbare Inspirationsquelle, und zwar nicht nur für technische Fragen. Immer wenn es Schwierigkeiten oder offene Fragen gebe, denke er an Nurejews treibende, ja provozierende Kraft: „Reagiert! Geht raus, seht euch das an!“, habe er der damals eher „still vor sich hinarbeitenden Generation“ immer wiederholt. Dieser Appell ans Wagnis zusammen mit der ungebrochenen Leidenschaft für die eine Sache und Manuel Legris‘ unbeirrbarem Lebensvertrauen haben eine unschlagbare Mischung ergeben, die ihn bis heute auf leichten Fittichen durch alle Unbill tragen – von der Panne seiner ersten unrechtmäßigen Ernennung zum Danseur Etoile durch Maurice Béjart über das Warten auf bestimmte Rollenbesetzungen bis hin zum Nachdenken über das unverhoffte Angebot aus Wien, die Ballettdirektion zu übernehmen, und derzeit die Frage, was nach 2020 komme. Denn dann wird Manuel Legris Wien verlassen, weil er spürt, dass sowohl er wie auch seine Compagnie eine neue Herausforderung brauchen. „Challenge“ ist auch so ein Nurejew-Thema, ein Muss, und für den ganz anders gestrickten, einstmals still wie eine Ameise im Hintergrund arbeitenden Manuel Legris, den Claude Bessy in der Tanzschule noch nicht einmal hatte kommen sehen, eine zutiefst verinnerlichte Mahnung, nie stehen zu bleiben. „Geh das Wagnis ein, nimm die Gelegenheit an!“, hört er dann. Nach meinem Abschied vom Pariser Opernballett „in Paris zu bleiben, also sozusagen bei mir zuhause, wäre einfach nur bequem gewesen. In fünf Jahren bist du dann tot, sagte ich mir, und du hast den Glauben verloren. So bin ich aber nicht.

Und dass ich 2020 Wien wieder verlasse, hat genau die gleichen Gründe.“ Diese Entscheidung habe er getroffen, ohne eine Alternative im Hinterhalt zu haben, das betont Manuel Legris, denn offenbar nimmt ihm das kaum einer ab. „Ich habe so entschieden, um frei zu sein und das nach außen zu signalisieren. Ich möchte sehen, ob sich nach zwei Jahren eine neue Möglichkeit eröffnet.“ Für die Übernahme einer neuen Compagnie brauche er erst einmal etwas Abstand, um wirklich Neues schaffen zu können. Nurejew-Choreografien bei anderen Compagnien einzustudieren wie jüngst fürs Hamburg Ballett den Don Quijote, das könne er sich gut vorstellen, aber auch eigene Choreografien zu entwickeln, sein erster abendfüllender Versuch – der Corsaire 2016 in Wien – habe ihn durchaus ermutigt. Und an dieser Stelle, nur an dieser, schlüpft ganz kurz einmal durch, dass er dann auch ein wenig mehr „vom Leben profitieren“ könne. Als Tänzer hingegen würde er nur gelegentlich noch auftreten, in Form fühle er sich, aber „meine Karriere als Tänzer ist beendet. Ich mach nur noch etwas, wenn ich das Gefühl habe, wirklich etwas bieten zu können, nicht um auf der Bühne zu stehen und eine Mucke zu machen.“ Immer wieder betont er, dass er in seinem Leben nie mit irgendetwas gerechnet habe, es sei einfach passiert. Er habe ungeheures und beständiges Glück gehabt in seiner Karriere, mit seiner physischen Konstitution – keine einzige Operation in seinem ganzen Tänzerleben – und den großartigen Kollegen und Choreografen, denen er begegnen durfte. Die kraftvolle Dankbarkeit, die aus all seinen Worten strömt, könnte einen neidisch machen, wenn sie nicht so überbordend wäre, dass sie einfach nur ansteckend wirkt.

So ist er also wirklich, dieser Manuel Legris – genau wie auf der Bühne, und zwar egal, welche Rolle er tanzte, den Romeo, Prinz Albrecht oder in einer Arbeit von Kylian, Preljocaj oder Robbins. Ob er denn nie die Nase voll gehabt habe, nie rebelliert habe, wie es Nurejew so existenziell und exemplarisch vorgelebt habe?

„Nein! Diese Frage stellt man mir oft und besteht regelrecht darauf, dass da doch etwas sein müsse. Denn die Leute finden es toll zu hören, dass klassischer Tanz schwer ist, eine Tortur. Für mich war das Tanzen aber permanente Glückseligkeit! Wenn ich das früher sagte, habe ich mich oft schuldig geführt, und mir gedacht, wie reagieren die Leute, wenn sie das hören, die müssen sagen, das ist doch unmöglich und nicht normal… Aber ich habe wirklich nicht gelitten, ich glaube, ich war einfach dafür gemacht.“

Weshalb ist Glück, also das, was sich alle am allermeisten wünschen, eigentlich so unglaubwürdig, ja fast ungehörig und unanständig? Sein Leben sei wirklich „wie ein Märchen. Es klingt schrecklich, so etwas zu sagen – ‚ein Märchen‘. Aber zugleich stellt sich die Frage, warum ein Märchen eigentlich schrecklich ist? Ich fühle mich seltsam, wenn ich das sage, denn die Leute glauben an so etwas nicht.“

Und da drängen sich die Prinzenrollen in den Märchen- und Erzählballetten vors innere Augen, für die Manuel Legris so prädestiniert war, dass sie regelrecht an ihm klebten und er dunklere Charaktere mit ins Boot holen musste, um sie danach noch einmal anders – vollständiger – zu tanzen.

Und der klassische Stil? Das ist Manuel Legris‘ große Liebe, das beteuert er immer wieder, er „liebe das Klassische“ einfach, das habe er von seinen Lehrern Gilbert Meyer und Pierre Lacotte und natürlich später Nurejew geerbt, „und ich kann das und kann das weitergeben“. Daher hat er den Corsaire auch in der klassischen Formensprache choreografiert – in einer Zeit, wo doch die Dekonstruktion Hochkonjunktur hat.

Wie kann man den klassischen Tanz und insbesondere dessen Nurejewsche Version Menschen nahebringen, hake ich nach, die damit nicht in Berührung gekommen sind oder es gar ablehnen?

„Es geht dabei um Schönheit und Musikalität. Selbst jemand, der sich weder mit klassischer Musik noch klassischem Tanz auskennt, kann, wenn er das hört und sieht, damit in Verbindung treten. Auf dem visuellen und klanglichen Niveau ruft etwas eine Reaktion hervor. Ich verstehe aber auch, dass Leute klassischen Balletten gegenüber völlig hermetisch bleiben.“ Es müsse ein Publikum für alles geben. Aber auch er findet, so pflichtet er bei, „dass schlecht getanzte klassische Ballette schrecklich sind. Und wenn man nicht die richtigen Tänzer dafür hatte, sollte man kein klassisches Ballett anbieten.“

Klassischer Tanz – ganz besonders in seinen großen Klassikern –, denke ich weiter, ist eine Kunstform, die wirklich eine Gratwanderung darstellt. Um ein Haar kann alles ins Langweilige oder sogar Alberne kippen, dann sieht man nur noch Tänzerinnen in kitschigen Kostümen und Tänzer in lächerlichen Strumpfhosen, die kindische Gesten verrichten. Selbst der Don Quijote in Hamburg bewegte sich – meiner Wahrnehmung nach – an der Kippe. Wenn man aber Nurejew und Ihre Generation damals sah, entstand dieser Eindruck überhaupt nicht. Der Tanz mochte noch so kompliziert sein und eigentlich alle Aufmerksamkeit auf seinen virtuosen Aspekt ziehen, doch er wies immer über sich hinaus, als wäre die ganze Erzählung nur Vorwand für etwas anderes, einen ganz abstrakten Ausdruck, der über eine Mischung aus Arroganz, Eleganz und Hoheit die Seele zutiefst berührt. Wie sehen oder erklären Sie das?

„Nurejew schaffte es, über seine Sprache, wenn sie einmal verstanden und verdaut war, etwas ganz anderes zu erzählen. Das konnte dann an der Geschichte selbst völlig vorbeigehen, man sah dann etwas anderes – Figuren, die sich entwickeln und immer größer werden.“ Vielleicht habe das auch mit der von mir erwähnten ‚Arroganz‘ zu tun, die bei Nurejew und manchen seiner Tänzer jeden Anhauch von Peinlichkeit von vorneherein zurückwies. Und dann, als ich einwende, obwohl er, Manuel Legris, diese Arroganz nicht an sich gehabt habe, habe auch sein Tanz stets über seine Prinzensujets hinausgewiesen. „Es liegt an dem roten Faden, den Rudolf uns gegeben hat. Wir wussten, weshalb wir da waren. Vielleicht müssen die Künstler, die das jetzt angehen, es erst absorbieren. Und das spürt auch das Publikum, es sieht nicht das, was Nurejew vermitteln wollte und was wir wirklich gelebthaben.“ Und, so fügt er hinzu, vielleicht habe auch der langsame, manchmal sogar umständliche Arbeitsweg damit zu tun, den sie damals beschritten hätten – ganz im Gegensatz zu heutigen Tänzern, die mit der Technik viel schneller sind; das Ergebnis sei nicht dasselbe. Es sei ein Gesamtzusammenhang aus vielen verschiedenen Komponenten gewesen, von denen die Schritte selbst nur ein Teil waren.

Ein gutes Beispiel sei „Romeo et Juliette. Ehrlich gesagt, war das, physisch gesehen, eine der schlimmsten Sachen, die ich je getanzt habe. Anfangs fragte ich mich, was soll das bloß, man hat nicht einmal die Zeit, Juliette überhaupt anzusehen und kotzt sie fast voll – das ist ja schrecklich… Doch schließlich habe ich verstanden, was er sagen wollte: Er wollte die Überdosis an Liebe, Jugend, Kraft und Schwung in eine Überdosis Schritte übersetzen.“ Oder „die acht Minuten Solo in Dornröschen: Während der Proben denkt man sich, das überlebe ich nicht. Doch abends auf der Bühne, wenn man am Ende angelangt ist, wird es ein Genuss und man sagt nur noch wow.“ Von da an habe er keine Schwierigkeiten mehr gehabt, mit Nurejew zu arbeiten. Und „ich denke, es kommt ganz darauf an, wie man das weitergibt. Die aktuelle Tänzergeneration in Paris (ich habe mir seit langem keine Nurejews mehr dort gesehen) hört man öfter sagen, dass sie das zu schwer finden, ja untanzbar, und es nicht mögen.“ Seine Wiener Tänzern hätten aber inzwischen „ein immenses Vergnügen, das zu tanzen“.

Wie ihm das gelungen sei? „Man muss das eben weitergeben können. Also nicht sagen, du musst soundso viele Ronds de jambe machen, sondern erklären, warum es nötig ist, durch all diese Schrittfolgen hindurchzugehen. Und dann natürlich, wie man die hinbekommt, denn sie scheinen auf den ersten Blick unkoordiniert zu sein. Doch für mich sind sie mittlerweile außerordentlich organisch. Das mag merkwürdig erscheinen, doch ein Choreograf wie John Neumeier ist für mich deutlich weniger organisch als Nurejew. Wenn man den Exzess an Schritten zu einer Bahn geordnet und kalibriert bekommt, dann kann man damit etwas ausdrücken – und das ist nicht gegen den Körper. Natürlich bedeutet das Arbeit. Und vielen Tänzern macht das Angst.“

Gegen Ende unseres Gesprächs kommt mir die Frage, ob Manuel Legris einen Traum hat – einen, der über das Tanzen hinausgeht? Doch schon während diese Frage meine Lippen verlässt, ist mir klar, wie unsinnig sie ist für jemanden, der schon immer über den Tanz hinaus ist. Manuel Legris muss lachen:

„Einen Traum – nein, denn meinen Traum verwirkliche ich ja, ich bin mitten drin. War schon immer drin, ob mit 10 Jahren in der Ballettschule oder mit 15 im Corps de Ballet oder mit 44 Jahren am Ende meiner Laufbahn an der Oper. Einen Traum – einen speziellen? Nein! Im Moment lebe ich ganz von Tag zu Tag und habe keine Zukunftsvision. Ich hoffe, dass das Leben mich überrascht, bisher habe ich immer neue Herausforderungen angenommen und erlebt.“

Ungemindert weiter sprühend, eilt Manuel Legris zu seinen Tänzern. Die Vorstellung beginnt in zehn Minuten. Einer von ihnen hat heute ein Rollendebut. Manuel Legris steht ihm zur Seite.

Und hier ein paar Videoaufnahmen von/mit Manuel Legris, die ich ganz besonders liebe:

Square Dance (Arcangelko Corelli)

Le spectre de la rose, chor. Vaslav Nijinski (mit Claude de Vulpian)

Die Arlesienne, choreografiert von Roland Petit (mit Isabelle Guérin)

Dances at a gathering, the Brown Boy solo (Jerome Robbins)

Casse-Noisette, Adagio du Grand Pas (chor. Rudolf Nurejew, mit Élisabeth Maurin)

Roméo et Juliette, Balkonszene (chor. Rudolf Nurejew, mit Monique Loudières)

und

Le parc (chor. Angelina Preljocaj, mit Aurélie Dupont)